„Man tankt wieder auf“
Gesang klinge, stellt Bossinger klar.
„Wichtig ist die innere Beteiligung; je
mehr Freude man beim Singen emp-
findet, desto stärker ist die positive
Wirkung.“ Darum empfiehlt er, Lieder
zu singen, die einem Spaß machen.
Ebenso gesundheitsfördernd sei es
auch, fünf bis zehn Minuten täglich
Vokale zu tönen, also zum Beispiel
ein langgezogenes A oder O in der
eigenen Wohlfühl-Stimmlage auf ein
Ausatmen zu singen. Die Atmung
verlangsame sich dabei, ebenso die
Gehirnwellen, der Parasympathikus
werde aktiviert. „Wenn wir singen, un-
terbrechen wir den Gedankenstrom,
dieses ständige Rattern im Kopf.“ Der
Körper entspannt, zugleich werden
die Resonanzräume beschwingt. „Wir
verabreichen uns damit selbst eine
Klangmassage“, erläutert Bossinger,
der an Kliniken Patientengruppen
zum heilsamen Singen leitet.
Für Arnd Reuver ist Musik ein Spiegel
seines Wohlbefindens, er könne mit
ihr aber ebenso seine Laune zum Po-
sitiven beeinflussen. Singen sei eine
gute Möglichkeit, seine Gefühle aus-
zudrücken und zu verwandeln, be-
stätigt Bossinger. Gerade pflegende
Angehörige empfinden ja häufig Trau-
er, wenn sie zum Beispiel den Verfall
des Pflegebedürftigen mitansehen
müssen, vielleicht auch Ohnmacht,
Wut oder Angst. „Wenn man sieht,
wie es mit jemandem zu Ende geht,
ist das schon schwer auszuhalten“,
sagt auch Roswitha Limmert über die
letzten Lebensjahre ihrer Mutter. Das
Singen im Chor half ihr durch diese
schwierige Zeit.
Mirjam Ulrich, freie Journalistin,
Wiesbaden
→
Durchatmen und drauflos sin-
gen – dazu animiert die Sän-
gerin Anja Lerch Menschen
jeden Alters bei ihren offenen
Singabenden.
Viele Menschen meinen, sie könn-
ten nicht singen. Was sagen Sie als
Sängerin dazu?
Viele bekamen das als Kind in der
Schule oder zu Hause zu hören.
Früher haben die Menschen mehr
zusammen gesessen und einfach
gesungen aus lauter Freude. Das
hat sich sehr verändert. Dabei ge-
hört Singen wie Tanzen einfach zum
Menschen dazu, ohne dass man
einen großen Perfektionsanspruch
haben sollte.
Sie bieten seit 2007 offene Singa-
bende an. Was ist das Schöne dar-
an, gemeinsam zu singen?
Man kommt unheimlich schnell in
Kontakt. Das Singen schlägt eine
Brücke zwischen den Menschen,
die Atmosphäre ist gelöst. Ich glau-
be, die Menschen haben auch eine
Sehnsucht danach, sich in einem
guten Sinne verbunden zu fühlen,
dass man etwas zusammen macht.
Wenn man singt, ist das wie ein Ab-
tauchen. Dadurch tankt man wie-
der auf und kann danach frisch und
beschwingt in den Alltag starten.
Wer kommt zu solchen Singaben-
den?
Der jüngste Teilnehmer ist ein
zwölfjähriger Junge, die älteste
Dame ist 87. Wenn wir englische
Lieder singen, singe sie halt ‚Lala-
la‘, sagte sie mir lachend. Die größ-
te Gruppe sind Menschen ab 40,
die Mehrheit sind Frauen. Die Män-
ner, die kommen, machen aller-
dings beständig mit.
Worin sehen Sie die Vorteile eines
offenen Singabends gegenüber ei-
nem Chor?
Dass man sich zeitlich nicht so bin-
det, man kann kommen wie man will.
Chöre sind oft auch eingeschränkt,
was die Liedauswahl betrifft. Bei den
Singabenden wird wirklich alles quer
durch den Garten gesungen, vom
Volkslied bis zum Rock-Song. Und es
ist egal, ob ein falscher Ton kommt.
Das Interview führte Mirjam Ulrich,
Journalistin, Wiesbaden
Termine für Anjas Singabende unter:
www.anjalerch.deDie Sängerin Anja Lerch veranstaltet seit 2007 im Ruhrgebiet und am
Niederrhein offene Singabende.
5
Magazin für pflegende Angehörige